28. Mai 2016 – Polizeigewalt in Luckenwalde
I. Über das Dossier
Am 28. Mai 2016 fand im Werner-Seelenbinder-Stadion in Luckenwalde das Finale im Brandenburger Krombacher-Landespokal statt. Der SV Babelsberg 03 war zu Gast beim heimischen FSV 63 Luckenwalde. Für die Babelsberg-Fans war es ein Tag voller aufregender Vorfreude. Nulldrei spielte endlich wieder um den Einzug in den DFB-Pokal. Die Partie wurde um 12:30 Uhr angepfiffen und endete mit einem souveränen 3:1-Sieg für den SVB. Ungefähr 1000 Babelsberg-Fans begleiteten ihr Team nach Luckenwalde und wollten nach Abpfiff den Pokalsieg feiern. Jedoch verhinderten behelmte, größtenteils vermummte und teilweise ungekennzeichnete Beamte der Brandenburger Bereitschaftspolizei sowie Berliner Beamte der Bundespolizei die fröhliche Feier und griffen die Nulldrei-Fans an. Der exzessive Einsatz von Pfefferspray sowie Schläge mit Fäusten und Schlagstöcken sowie Tritte der Beamten verletzten viele Fans. Noch heute sind einige der Betroffenen in Behandlung.
Obwohl die Ereignisse und die exzessive Polizeigewalt mehrfach Thema im Innenausschuss des Brandenburger Landtages war, hat bis heute keine umfassende Aufarbeitung durch die Behörden, die Politik und die Vereine stattgefunden. Wir, der Fanbeirat des SV Babelsberg 03, das Netzwerk zur Unterstützung repressionsbetroffener Nulldreier*innen (nur03*), Betroffene und Zeugen der Polizeigewalt in Luckenwalde haben uns deshalb entschieden, selbst aktiv zu werden und die Ereignisse beim Pokalfinale aufzuarbeiten. Aus diesem Grund haben wir in mühevoller Arbeit das vorliegende Dossier zu den Geschehnissen erstellt. Wir möchten uns an dieser Stelle beim Fanprojekt Babelsberg und den zahlreichen anderen Personen bedanken, die uns bei unserer Arbeit unterstützt haben.
Die Zusammenstellung hat lange gedauert, viel länger, als wir dachten. Wir haben Bilder und Videos gesichtet. In vielen Treffen wurden Augenzeugen angehört und Verletzungen dokumentiert. Diese Menge an Material zu sichten, zu ordnen und in eine nachvollziehbare Form zu bringen, kostete Kraft. Viele von uns waren selbst Betroffene. Deshalb ist es uns nicht leicht gefallen, das Geschehene durch die Erzählungen und Berichte immer wieder neu zu erleben. Aber wir wollten die Aufarbeitung aus der Perspektive der verletzten und traumatisierten Fans ermöglichen und so den Betroffenen eine Stimme geben.
Außerdem möchten wir mit dem vorliegenden Dossier das ohrenbetäubende Schweigen durchbrechen. Wir wollen klarstellen, dass wir Babelsberg-Fans, wir Betroffene und Zeugen, nicht vergessen werden, was in Luckenwalde passiert ist. Wir können die Unterstellungen, die seit Monaten über uns verbreitet werden, nicht mehr ertragen. Deshalb beschäftigen wir uns auch mit den widersprüchlichen Informationen, die durch die Polizei und das Innenministerium beziehungsweise den Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) verbreitet werden. Abschließend haben wir Forderungen formuliert, die wir an die Polizei, das Innenministerium, die Politik und die Vereine richten.
II. Chronologie des Gewaltexzesses
In diesem Kapitel dokumentieren wir die Vorkommnisse nach Abpfiff beziehungsweise den Angriff der Polizei auf feiernde Babelsberg-Fans und den Gewaltexzess einzelner Beamter. In einer ausführlichen Chronologie der Eskalation nach Spielende, in welcher in weniger als zehn Minuten viele Babelsberg-Fans verletzt und traumatisiert wurden, werden wir möglichst genau und ausführlich die Polizeigewalt darstellen. Hierzu haben wir in vielen Stunden Video- und Bildmaterial gesichtet und ausgewertet, mit Augenzeugen gesprochen und Kontakt zu Betroffenen aufgenommen. Da viele der Augenzeugen anonym bleiben wollen, haben wir uns dazu entschieden, zu den Zitaten keine Namen anzugeben. Bevor wir zu den Ereignissen kommen, möchten wir aber, um die folgenden Beschreibungen besser verstehen und einordnen zu können, die immer wieder vorkommenden Orte im Werner-Seelenbinder-Stadion des FSV 63 Luckenwalde genauer beschreiben.
Im Stadion gibt es mehrere Sportanlagen. Darunter ist der Hauptplatz, auf dem das Spiel zwischen dem FSV 63 Luckenwalde und dem SV Babelsberg 03 um den Krombacher-Landespokal ausgetragen wurde. Die Heim-Zuschauer des Spiels saßen beziehungsweise standen auf der Haupttribüne sowie in der östlichen Hintertorgeraden. Die Gäste versammelten sich auf der Gegengraden sowie im Bereich der westlichen Hintertorgeraden. Der Eingang für die Gäste befand sich gleich neben der Geschäftsstelle des FSV 63 Luckenwalde in der Straße des Friedens. Zwischen Eingang, dem Gebäude der Geschäftsstelle und der Gegengraden gibt es eine Rasenfläche mit einem großen Baum in der Mitte. Dahinter befindet sich der Kunstrasenplatz, welcher sich bis zur Gegengrade erstreckt und etwa ein bis 1,50 Meter höher liegt als die restliche Rasenfläche am Eingang. So entsteht ein Wall, der neben der Rasenfläche für unsere Beschreibung wichtig sein wird.
Die Anreise der Nulldrei-Fans verlief entspannt. Die vom Verein und von aktiven Fans aus der Nordkurve Babelsberg organisierten Busse für die Nulldrei-Fans wurden von der Polizei nicht begleitet. Auch für die verschiedenen Gruppen, die aus Potsdam und Berlin mit dem Zug anreisten, gab es keine polizeiliche Begleitung. Am Einlass kam es zu keinen besonderen Vorkommnissen oder Maßnahmen der Polizei. Auffällig und erwähnenswert ist allerdings, dass die Beamten trotz einer entspannten Situation behelmt und zum Teil vermummt in unmittelbarer Nähe der Fans blieben.
Das Spiel begann aufgrund der Fernsehübertragung pünktlich um 12:30 Uhr. Die aktiven Fans sammelten sich in der westlichen Hälfte der Gegengrade, ungefähr bis zum Turm für die Fernsehübertragung. Zum Einlauf der Teams präsentierten sie ein Intro mit kleinen blau-weißen Fahnen. Im Verlauf des Spiels kam es weder auf Seiten der Gäste noch in den Heimblöcken zu erwähnenswerten Vorkommnissen. Selbst die Polizei beschreibt in einer ersten Meldung am 28. Mai 2016, dass es vor und während des Spiels „zu keinen relevanten Störungen“ kam. Umso unverständlicher war, was nach Abpfiff passierte. Es folgt eine Chronik der Ereignisse, die durch Auszüge aus Erzählungen und Berichte der Fans ergänzt wird.
14:18 Uhr. Wenige Minuten nach Ablauf der regulären Spielzeit, ungefähr in der 92. Spielminute, betreten vier Halbgruppen der Brandenburger Bereitschaftspolizei behelmt, vermummt und das Pfefferspray im Anschlag den Innenraum. Die Situation ist entspannt, ausgelassen und fröhlich. Trotzdem bilden die Beamten nur circa einen Meter vor dem Block der aktiven Fans eine Kette. Die Einheiten tragen, aus der Perspektive des Platzes von links nach rechts gesehen, die Gruppen-Kennzeichnungen 1433, 1432, 1410 und 1431. Zwischen den Gruppen 1433 und 1432 steht ein Beamter, der filmt und von einem weiteren Beamten aus der Gruppe 1434 begleitet wird.
Polizisten behelmt und teils sogar vermummt zogen auf – martialisch anmutend, wild gestikulierend, den Schlagstock sowie das Pfefferspray im Anschlag und immer wieder die Drohung mit den Pfefferspraydosen! Noch dachte ich mir nichts dabei und ging von einem Routineeinsatz aus. Wird schon alles richtig sein!
14:20 Uhr. In der 94. Minute fällt das 3:1 durch ein Tor von Onur Uslucan. Eine Minute später wird abgepfiffen. Der Gästeblock und das Team des SV Babelsberg 03 jubeln. Zunächst betreten zwei bis drei Fans den Rasen und suchen den Kontakt zu den Spielern, um sie zu umarmen und mit dem Team zu feiern. Sie werden äußerst brutal daran gehindert, umgerissen, am Boden fixiert und mit eng zusammengezogenen Kabelbindern gefesselt.
14:26 Uhr. Der SVB-Spieler Andis Shala kommt zum Zaun und feiert mit den Fans. Ein Bedrohungsszenario, das von der Polizei behauptet wird, ist nicht erkennbar. Die Fans freuen sich, sie jubeln und wollen lediglich mit ihrem Team feiern.
14:27 bis 14:28 Uhr. Das Team kommt endlich zum Zaun und will mit den Fans feiern. Es kommt zu Rangeleien zwischen Nulldrei-Fans und der Polizei sowie zwischen den Spielern des SV Babelsberg 03 und den Beamten. Das Team wird von den Polizisten abgedrängt. Die Spieler sind, wie auf Foto- und Video-Aufnahmen zu erkennen ist, über das Verhalten der Beamten erschrocken und bestürzt.
Dann fiel das 1:3 und wir jubelten und freuten uns auf den Abpfiff. Kaum war dieser da, sprangen 2 bis 3 Fans auf den Platz und wollten mit den Spielern feiern. Diese wurden von Ordnern und Polizisten „eingefangen“ und mit Kabelbindern direkt auf dem Platz (mit dem Gesicht nach unten) fixiert. Mein jüngster Sohn fing an zu weinen, mittlerweile war auch der 10-jährige sehr angespannt und fragte, warum die Polizei die Mannschaft nicht zu uns lasse. Darauf hatte ich keine Antwort. Wir blieben stehen und warteten ab, in der Hoffnung, dass der Tumult sich schnell beruhigen würde. Wir beobachten die Mannschaft und mit einem Auge die Polizei. Es kamen noch mehr Polizisten, welche sich vor dem Block aufstellten. Ich sah wie aufgebrachte Ordner von 03 versuchten mit der Polizei zu reden. Und dann sagte mein Sohn plötzlich: „Mir tut der Hals weh“. In dem Moment spürten wir alle, eine Reizung des Halses, die Augen fingen an zu jucken. Schnell reagierten wir darauf und verließen unseren Platz Richtung Einlass, da uns klar war, dass hier mit Reizgas gesprüht wird.
14:28 bis 14:29 Uhr. Die Situation eskaliert. Die Polizei setzt massiv Reizgas zunächst gegen die Fans auf dem Rasen und wenig später auch gegen die anderen Fans ein. René Kulke, einer der Vorsänger, der versucht die Situation zu beruhigen, wird von zwei Seiten von Beamten angegriffen. Sie sprühen ihm aus kürzester Distanz Reizgas direkt ins Gesicht. Er kollabiert und fällt von dem kleinen Podest am Zaun aus einer Höhe von circa 1,50 Meter zu Boden.
Ich stand direkt am Zaun und jubelte ausgelassen (die Menschen um mich herum natürlich auch), als der behelmte Polizist die Hand durch das Gitter streckte und ohne zu zögern das Pfeffer einsetzte. Nun kann ich froh sein, dass ich meine Sonnenbrille getragen habe, aber schmerzvoll ist diese Erfahrung allemal. Darauf folgte Rückzug, blindes Suchen nach Menschen, die mir helfen können, Panik, Verzweiflung und Atemnot. Glücklicherweise wurde ich von einem Freund in Sicherheit gebracht und diverse Menschen kümmerten sich sofort um uns Betroffene, brachten Wasser, suchten vermisste Leute, brachten mich zum Sani und sorgten dafür, dass keine weitere Panik entstand.
14:29 Uhr. Während am Gästeblock die Situation von der Polizei eskaliert wird, betreten zwei Fans des FSV 63 Luckenwalde den Innenraum. Eine Person rennt in Richtung Gästeblock. Auf Höhe der Mittellinie wird der Mann von einem Polizisten in Zivil zu Boden gebracht und fixiert. Der zweite Fan wird von Ordnern zurück in den Heimblock geschubst.
14:29-14:30 Uhr. Mehreren Personen wird von den Beamten aus sehr kurzer Entfernung Reizgas ins Gesicht gesprüht. Fans versuchen ihren kollabierten beziehungsweise verletzten Freunden zu helfen. Die Beamten treten und schlagen auf die Helfenden ein, anstatt den Kollabierten zu helfen oder die helfenden Fans zu unterstützen, wozu sie eigentlich verpflichtet wären. Sie riskieren so weitere, schwere Verletzungen und eskalieren die Situation zusätzlich. Ein Babelsberg-Fan, der vor der Gewalt der Polizei zurück in den Gästeblock flüchten will, wird vom Beamten der Halbgruppe 1412 mit der individuellen Nummer 26699 vom Zaun heruntergezogen. Dieser wird dabei durch einen Polizisten ohne Kennzeichnung unterstützt. Das Ergebnis ist eine schwere Verletzung an der Hand. Ein Fan, der ihm helfen möchte, wird vom Polizisten aus der Gruppe 1412 mit der persönlichen Kennzeichnung 26699 heftig geschlagen. In einer anderen Situation schlägt ein ungekennzeichneter Polizist mit hellgrünem Helm und Sanitätsbauchtasche mit einem Teleskopschlagstock auf einen weiteren Fan ein. Auch andere Personen, die den Verletzten helfen wollen, werden von den Polizisten mit Reizgas angegriffen, getreten und geschlagen.
Plötzlich ging alles ganz schnell, ohne besondere Vorwarnung wurden diese Menschen, als sie das Spielfeld über den Zaun wieder in Richtung Fankurve verlassen wollten, von den Beamten der Bundespolizei von den Zäunen gerissen. Zum Teil zogen zwei Beamte gemeinschaftlich an den sich verzweifelt am Zaun festhaltenden Menschen!! Andere Helfende wurden mit Pfefferspray buchstäblich vom Zaun geschossen! In diesem Moment sah ich, wie einer meiner Freunde am Kopf stark blutend von zwei Beamten einfach weggeschleift und auf dem Rücken liegen gelassen wurde! Er bewegte sich nicht mehr, war offensichtlich bewusstlos und musste immer noch Schläge und Tritte erleiden! Es gelang mir unter Schlägen, zu ihm zu gelangen, ich warf mich auf ihn und versuchte, ihn so schützend zu stabilisieren. Bei dem ersten Versuch wurde mir von einem der Beamten sofort ins Gesicht geschlagen und dieser Beamte grinste mich dabei noch an! Der zweite Versuch gelang und ich konnte meinen Freund stabilisieren.
14:30 Uhr. Das Fluchttor im Gästeblock springt auf. Der Polizist aus der Halbgruppe 1411 mit der persönlichen Kennzeichnung 57878 tritt rücksichtslos und exzessiv auf sie ein, offenbar um sie wieder zu schließen. Ein anderer Polizist aus der Gruppe 1411 mit der individuellen Kennzeichnung 82206 tritt auf einen bewusstlos am Boden liegenden Babelsberg-Fan ein, und ist augenscheinlich für einen Lendenwirbelanbruch, Prellungen an der Lendenwirbelsäule sowie am Nierenbecken bei diesem Fan verantwortlich. Ein weiterer Polizist aus der Gruppe 1411 mit der persönlichen Kennzeichnung 66625 versprüht zur selben Zeit Reizgas am Zaun.
Zum Zeitpunkt des Abpfiff befand ich mich auf der langen Geraden im Gästebereich, nahe der Eckfahne beim Eingang, unten am Zaun. Ich beklatschte den Sieg mit meiner Frau und Freunden, als ich kurze Zeit später Schreie, die eher auf Tumult als auf Freude hindeuteten, aus Richtung des Technikturms vernahm. Wir eilten den Rang hoch und ich sah rechts aus dem Augenwinkel zwischen den anderen Zuschauern hindurch Nebelschwaden oder Rauchwolken und dachte dabei zunächst an Pyrotechnik und beruhigte mich wieder. Als mir dann aber die ersten Zuschauer mit knallrotem Kopf und tränenden Augen entgegen kamen, war mir klar, dass es sich um Reizgas handeln muss. Ich eilte sofort zum Getränkewagen, um nach Wasser zu fragen und nach kurzer Diskussion durften wir sogar den Anschluss für den Feuerwehrschlauch öffnen und damit unzählige Becher füllen. Während ich zapfte, wurden die Helfer immer weniger und die vollen Becher immer mehr, also beschloss ich, mir selbst ein paar Becher zu schnappen und zu helfen, wo ich konnte. Ich rannte den Hang hoch und mir bot sich ein schreckliches Bild: überall lagen Leute, von Kindern bis Rentnern war alles vertreten, meist von 1-2 Helfern mit Wasser umsorgt, vor Schmerz stöhnend oder gar schreiend. Ich erkannte hier und da Freunde und Bekannte, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten und wie blind, mit den Händen tastend einen Ausweg suchten.
14:32 bis 14:34 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt liegen oder sitzen viele kollabierte und verletzte Fans im Innenraum am Boden. Andere Fans versuchen, sich um sie zu kümmern. Die Polizisten machen keine Anstalten, selbst Erste Hilfe zu leisten oder Sanitäter zu holen. Die verletzten Fans und ihre Helfer bleiben allein und müssen sich selbst um die Betroffenen kümmern. So wird der kollabierte und um Atem ringende René Kulke von Fans weiter zum Mittelkreis geschleppt. Weitere Beamte ziehen auf, mehrere Gruppen der Bundespolizei mit der Kennzeichnung 8110, 8120, 8320 usw. betreten den Innenraum. Die Fans sind, wie auf den Foto- und Video-Aufnahmen zu erkennen sowie in den Berichten der Fans zu lesen ist, vor allem geschockt, verzweifelt und entsetzt. Doch die Situation wird von den Beamten weiter eskaliert. So wird links und rechts vom Fluchttor unmotiviert und ohne ersichtliche Rechtfertigung aus einem Meter Entfernung auf Gesichtshöhe Reizgas in den Gästeblock gesprüht. Wieder werden Dutzende verletzt. In dieser Situation ist ein dritter ungekennzeichneter Polizist zu sehen.
Ich stand weiter oben und hielt mich an einem Fahnenmast fest. Plötzlich zogen behelmte Polizisten vor dem Block der Fans auf. Das Spiel lief noch. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Deshalb konnte ich keinen Grund für diese Aktion der Polizei erkennen. Dann fiel das 3:1 und die Freude über den Pokalsieg kannte keine Grenzen. Alle waren am Feiern. Die auf dem Rasen aufgezogene Polizeikette änderte daran erstmal nix. Dann kam der Abpfiff. Einige wenige waren bereits auf dem Rasen und wollten dem Team gratulieren und mit den Spielern feiern. Hierbei kam es zu ersten Rangeleien, die aber nicht besonders aufregend waren. Die Situation verschärfte sich aber immer mehr und plötzlich begannen die Behelmten gezielt und auf Kopfhöhe Personen Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen. Andere zerrten an den Fans, versuchten sie zu Boden zu werfen. Sie schlugen auf sie ein. Noch mehr Pfefferspray wurde breitflächig durch den Zaun versprüht und Reizgaswolken zogen in den Gästeblock. Dutzende brachen zusammen und wendeten sich ab. Einige flohen in Richtung Ausgang andere nach hinten auf den Kunstrasenplatz. Ich stieg auch runter und wollte den Menschen helfen. Ich sah in die leeren Gesichter. Der Schock und die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. In nur wenigen Momenten hatte sich das Glück über den Pokalsieg in pure Angst und Ohnmacht verwandelt. Obwohl mir selbst nichts passiert ist, ich weder viel vom Pfeffer abbekommen habe oder verletzt wurde, diese vielen vielen entsetzten Fans, diese leeren Augen und die Verzweiflung der Leute werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
14:38 bis 14:42 Uhr. Auf einer Wiese im Eingangsbereich zum Gästeblock, unter einem schattenspendenden Baum, behandelt der Rettungsdienst die verletzten Fans. Weitere Verletzte und Traumatisierte sind auf den Kunstrasenplatz hinter dem Gästeblock geflohen. Die Feuerwehr löst einen sogenannten „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“ (MANV) aus und fordert Verstärkung unter anderem durch einen Rettungshubschrauber an. Ein Krankenwagen fährt in den Innenraum. René Kulke wird darin behandelt und schließlich zum Eingang abtransportiert. Erst 14:56 Uhr verlässt er den Rettungswagen. In den genannten Minuten wird dem Team der Pokal übergeben und die Spieler feiern verdient ihren Sieg. Nach weiteren Minuten stehen die Polizisten nun in einiger Entfernung vom Gästeblock.
Ich hab nach den Vorfällen auf dem Spielfeld im Bereich zwischen Toiletten und Bierstand mitgeholfen, etlichen Leuten die Augen auszuspülen. Neben den Toiletten vor dem Ausgangstor hatten sich ca. 20 Polizeibeamte gesammelt. Diese zogen sich nach einigen Minuten hinter das Eingangstor zurück, dieses blieb aber geöffnet. Ich stand dann neben dem Toilettengebäude mit dem Rücken zu den Polizeikräften. Plötzlich wurde ich ziemlich heftig zu Boden geworfen von vorwärts stürmenden Polizeibeamten. Es gab nach meinem Eindruck keinen ersichtlichen Anlass für das Vorstürmen.
14:46 bis 14:48 Uhr. Einige Polizei-Gruppen verlassen den Innenraum und bewegen sich in Richtung Eingangsbereich zum Gästeblock. An der Wiese, wo die Verletzten behandelt werden, setzen die Beamten wieder Reizgas ein. Die Verletzten müssen erneut fliehen und bewegen sich in Richtung Kunstrasenplatz auf einen Wall. Außerdem kommt es zu einem Angriff von zwei ungekennzeichneten Polizisten auf mindestens eine Person aus einer Gruppe heraus. Die Beamten rennen vom Eingang in Richtung Fans, wobei unklar ist, was genau das Ziel dieser Maßnahme gewesen sein soll. Einer der Angegriffenen wird mehrfach mit einem Teleskopschlagstock auf den Kopf geschlagen und schwer verletzt. Er muss in der Notaufnahme behandelt werden.
Ich saß immer noch bei besagten Bruder und habe versucht ihn so weit zu beruhigen, dass er nicht noch einen Schlagstock auf den Kopf bekommt, als ich mitbekam, wie sich die Polizei zurückzog. Ich habe mich bereits gefreut und gehofft, dass wir jetzt alle endlich gehen können, da stürmte der gesamte Trupp auf einmal, ohne einen mir erkenntlichen Anlass, wieder durch das Eingangstor auf den Vorplatz. Dabei gaben sie Geräusche von sich, die man eher aus dem Film “300” kennt. Und sie rannten über zwei Menschen drüber, traten nachträglich noch mal auf sie ein. Die hinteren Polizisten holten daraufhin ihre Schlagstöcke raus und schlugen die am Boden liegenden Männer ein. Es kamen immer mehr Polizisten.
14:49 bis 14:51 Uhr. Die letzten Gruppen der Polizei verlassen den Innenraum. Sie bewegen sich zum Tor am rechten Ende des Gästeblocks und passieren die Wiese, auf der die Verletzten behandelt werden.
Die Situation beruhigte sich gegen 15 Uhr, also etwas mehr als eine halbe Stunde, nachdem sie eskaliert war. Die Fans machen sich auf den Weg nach Hause, holen ihre Freunde aus dem Krankenhaus ab und versuchen das Erlebte zu verarbeiten.
Die Ereignisse hinterließen bei den Augenzeugen und Betroffenen vor allem Unverständnis und Fassungslosigkeit. Viele beschreiben, dass sie einen solchen Angriff auf friedlich feiernde Fußballfans, von denen keinerlei Gewalt ausging, noch nie erlebt haben. Diejenigen, die in Luckenwalde dabei waren, sind bis heute entsetzt über das, was in Luckenwalde passierte. Die Fans können nicht begreifen, wie und warum eine Situation der Freude und des Glücks durch die Polizei so schnell in Panik, Angst und Verzweiflung verwandelt wurde. Immer wieder wird auf die Hilflosigkeit hingewiesen, in der sich die Betroffenen gefangen sahen. Sie betonen außerdem, dass die Gewalt völlig unvermittelt, willkürlich und rücksichtslos über sie hereinbrach. Der Schock sitzt tief und belastet die Fanszene weiterhin. Auch weil weder von der Polizei, den Behörden und der Politik, noch von den verantwortlichen Fußballverbänden und -vereinen eine ernstzunehmende Aufarbeitung der Ereignisse stattgefunden hat.
III. Reaktionen auf den Gewaltexzess
Nach dem Finale im Krombacher-Pokal in Luckenwalde wurden von Faninitiativen, dem Fanbeirat Babelsberg, dem Fanprojekt sowie der Polizeidirektion West, dem Fußball-Landesverband Brandenburg (FLB) sowie den Vereinen FSV 63 Luckenwalde und SV Babelsberg 03 Stellungnahmen und Mitteilungen zu den Vorkommnissen veröffentlicht. Wir möchten an dieser Stelle die widersprüchlichen Inhalte und Positionen der verschiedenen Akteure dokumentieren und gegenüberstellen.
Am 28. Mai, nur wenige Stunden nach den schockierenden Ereignissen in Luckenwalde, reagierte die Faninitiative nur03* und veröffentlichte einen ersten Kurzbericht. Darin wurde der Brandenburger Bereitschaftspolizei ein Angriff auf feiernde Babelsberg-Fans und damit einhergehend exzessive Gewalt gegen eine große Zahl von Menschen vorgeworfen. Der massive Einsatz von Pfefferspray und Knüppel gegen die halbe Gegengrade, so heißt es bei nur03*, führte zu mindestens vier kollabierten Personen, mindestens einem Dutzend schwer Verletzten und mehreren Dutzend mit Atemnot kämpfenden Fans sowie zu hunderten Traumatisierten. Außerdem erklärt nur03*, dass eine Person zumindest zeitweise in Lebensgefahr geschwebt haben soll.
Die Polizei bleibt in ihrer ersten Meldung, die am Abend des 28. Mai 2016 veröffentlicht wurde, zunächst zurückhaltend und schreibt, dass es „durch den Einsatz von Reizgas zu mehren Leichtverletzten sowohl unter den Fans, als auch bei Polizeikräften“ (sic) gekommen sein soll. Diese erste Einschätzung zur Zahl der Verletzten ist mehr als erstaunlich, da selbst die Presse, wie zum Beispiel die „Märkische Allgemeine Zeitung“ im Artikel „Pokalfinale: Schlimme Szenen nach dem Abpfiff“ vom 28. Mai 2016 nur wenige Stunden nach den Vorkommnissen in Luckenwalde, von Dutzenden Verletzten „aller Altersgruppen, darunter etliche Unbeteiligte, die unter dem massiven Einsatz des Reizgases leiden“, schreibt. Außerdem ist bekannt, dass die Rettungskräfte, die im Werner-Seelenbinder-Stadion im Einsatz waren, einen „Massenanfall von Verletzten und Erkrankten“ (MANV) ausgelöst haben. Das bedeutet, dass die eingesetzten Rettungskräfte die Masse an Verletzten nicht mehr alleine versorgen konnten. Deshalb sollten im Rahmen des MANV alle in der Umgebung verfügbaren Rettungswagen ins Stadion kommen, um die Verletzten zu versorgen. Es waren mindestens 14 Rettungswagen, die Notfallseelsorge und ein Rettungshubschrauber im Einsatz, wobei letzteres für eine zumindest potenziell lebensbedrohliche Situation spricht. Die Bilanz des Rettungsdienstes des Landkreises Teltow-Fläming sieht dementsprechend so aus, dass, wie im Artikel „Nachspiel für Polizeieinsatz beim Pokalfinale in Luckenwalde“ im „neuen deutschland“ vom 3. Juni 2016 nachzulesen ist, fünf verletzte Beamte, zwei verletzte Feuerwehrleute und 36 Fans behandelt wurden, wobei zwei Personen ins Krankenhaus transportiert werden mussten.
Unmittelbar nach den Vorfällen von Luckenwalde luden das Fanprojekt Babelsberg beziehungsweise aktive Fangruppen und Faninitiativen zu mehreren Treffen in Babelsberg und Berlin ein, in denen sich Betroffene als auch Zeugen austauschen konnten. Bei diesen Treffen sowie anhand von nachträglichen Meldungen beim Fanprojekt ergibt sich eine weitaus höhere Zahl von verletzten und traumatisierten Fans. Viele hatten das Gefühl, zu ersticken. Es kam zu Haut-, Augen- und Rachenreizungen. Mindestens drei Personen kollabierten oder waren bewusstlos. Es gab zahlreiche Personen mit Bruch- und Schnittverletzungen, Platzwunden und Hämatome unter anderem durch die Schlagstöcke der Polizisten sowie Prellungen. Das Fanprojekt zählte 128 durch Pfefferspray verletzte Personen, darunter 5 Kinder, 5 traumatisierte Fans, darunter 3 Kinder und 1 Jugendlicher sowie 27 schwerverletzte Fans. Das bedeutet, dass sich allein 155 verletzte und traumatisierte Babelsberg-Fans beim Fanprojekt gemeldet haben.
Der SV Babelsberg 03 ging am 29. Mai 2016 mit einer vorläufigen Stellungnahme zum Polizeieinsatz nach dem Pokalendspiel in Luckenwalde an die Öffentlichkeit. Der Verein schreibt darin, dass die Polizei entgegen der Absprachen handelte und Ordner des SVB aktiv daran gehindert haben soll, zwischen Fans und Polizei zu vermitteln beziehungsweise deeskalierend einzuwirken. Außerdem wurden Spieler, so der SVB in seiner Erklärung, obwohl zu diesem Zeitpunkt keine Gefahrensituation erkennbar war, von den Einsatzkräften der Polizei rüde daran gehindert, mit den Fans am Zaun zu feiern. Deshalb und auch aufgrund der unverhältnismäßigen, überharten und teilweise rücksichtslosen Gewalt sowie das wahllose Versprühen von Pfefferspray kommt der Verein zu dem Schluss, dass das „aggressive Verhalten der Polizei, die absichtliche Trennung der Mannschaft von den Fans und die Verweigerung des deeskalierenden Eingreifens unseres Sicherheitsdienstes […] zur bekannten Eskalation nicht nur auf dem Spielfeld und im Gästeblock, sondern auch im Eingangsbereich des Stadions“ führten.
Am 31. Mai 2016 wurde eine gemeinsame Presseerklärung der Polizeidirektion West, des Fußball-Landesverband Brandenburg, des SV Babelsberg 03 und des FSV 63 Luckenwalde veröffentlicht. Darin widerspricht der SVB seiner eigenen, ersten Stellungnahme vom 29. Mai 2016 und übernimmt augenscheinlich die Version der Polizei. Die Erklärenden bedauern zunächst, „dass es zu verletzten Fans und Ordnern des SV Babelsberg 03 und zu verletzten Polizeibeamten gekommen ist“. Darüber hinaus wird „eine differenzierte Nachbereitung über den Umfang der Zwangsmittel, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit zum Einsatz kamen“, angekündigt. Außerdem rechtfertigen die Erklärenden, obwohl die Vereinsvorstände ausdrücklich betonen, dass es keine Fanfeindschaft zwischen dem FSV 63 Luckenwalde und dem SV Babelsberg 03 gab und gibt, den Einsatz von Zwangsmitteln „wie Schlagstöcke und Reizstoffsprühgeräte“ zur Vermeidung vermeintlich bevorstehender „Fanauseinandersetzungen und Angriffe auf Polizeibeamte“. Nicht minder bemerkenswert ist die Äußerung von Dirk Heinze, dem Präsidenten des FSV 63 Luckenwalde, der sich bei den Luckenwalder Fans bedankt, weil sie trotz fehlenden Sicherheitszauns im Heimbereich geblieben seien. Wie von Augenzeugen berichtet wurde sowie auf Bild- und Videomaterial zu sehen ist, betraten aber mindestens zwei Fans des gastgebenden Teams den Innenraum, um zum Gästeblock zu gelangen.
IV. Forderungen
In der Gesamtschau ist auffällig, dass die Polizeidirektion und das Innenministerium Brandenburg zur Rechtfertigung der exzessiven Gewalt gegen die Babelsberg-Fans bis heute widersprüchliche Angaben machen und auch fast vier Monate nach den Vorkommnissen kein sichtbares Interesse der Behörden an der Aufarbeitung der Vorfälle erkennbar ist. Außerdem fällt auf, dass dem Einsatz von mindestens zwei, wenn nicht sogar drei, Polizisten ohne Kennzeichnung weder von der Polizei noch von der Öffentlichkeit große Beachtung geschenkt wird, obwohl in Brandenburg für Beamte die Pflicht besteht, eine individuelle Kennzeichnung zu tragen. Pikant wird dieses Detail, da, wie auf Bild- und Videoaufnahmen zu sehen ist, diese ungekennzeichneten Polizisten für einen nicht unerheblichen Teil der schweren Verletzungen der Fans durch Tritte, Schlagstock- und Faustschläge verantwortlich sind. Die fehlende Aufarbeitung der Geschehnisse in Luckenwalde verstärkt außerdem den Eindruck, dass der brutale, willkürliche und traumatisierende Angriff gewalttätiger Beamter auf friedlich feiernde Fußballfans, darunter viele ältere Menschen, Frauen und Kinder ohne Konsequenzen bleiben soll.
Damit dies nicht passiert, haben wir Forderungen an die Polizei, das Innenministerium des Landes Brandenburg beziehungsweise den Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD), den Fußball-Landesverband Brandenburg (FLB) sowie die Vereine SV Babelsberg 03 und FSV 63 Luckenwalde formuliert, mit denen wir unser Dossier zur Polizeigewalt abschließen wollen.
Wir fordern:
→ dass endlich die Ereignisse in Luckenwalde durch die Behörden, den Fußball-Landesverband Brandenburg und die Vereine umfassend aufgearbeitet werden und es Konsequenzen für die Einsatzleitung und die Gewalttäter in Uniform gibt.
→ eine Entschuldigung der Polizei bei den Betroffenen sowie die Überprüfung der unterstellten Motivation der Fans und der Zahl der Verletzten.
→ dass sich der Verein SV Babelsberg 03 offiziell in einer eigenen Erklärung hinter die eigenen Fans stellt, seine Unterstützung für die Betroffenen zum Ausdruck bringt und konkrete Hilfe zur Begleitung anbietet.
→ einen respektvollen Umgang mit den Fans, den Mitarbeitern des Fanprojekt Babelsberg und den Mitarbeitern vom Sicherheitsdienst.
→ die strikte Einhaltung der bestehenden Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte sowie die Veröffentlichung und Ahndung jeder Zuwiderhandlung.
→ dass, in großen Menschenmengen im Allgemeinen und im Stadion im Besonderen kein Reizgas eingesetzt wird.
→ die Einrichtung einer externen Vertrauensstelle für Beschwerden gegen polizeiliches Handeln, die mit umfassenden Befugnissen zur Aufarbeitung von Polizeigewalt ausgestattet ist.
Fanbeirat des SV Babelsberg 03, Netzwerk zur Unterstützung repressionsbetroffener Nulldreier*innen
Der Download des Dossiers mit Bildern und einer ausführlichen Zusammenstellung relevanter Veröffentlichungen ist hier möglich.